Die sportliche Entwicklung der Kampfkünste

Auszug aus einem Interview mit Sensei Roland Habersetzer, das in der September-Ausgabe 2001 der Zeitschrift "En Jeu, une autre idée du sport" (Monatszeitschrift der Ufolep-Usep) erschienen ist.
Zusammenstellung: Pascal Brenot
Wie definieren Sie Kampfkunst?

Am Anfang war, genau genommen, die rein zweckmäßige Technik für den Kampf. Diese wurde zur Kunst erhoben, als die zerstörerische Komponente, die Waffe, vom gebildeten Geist eingeholt wurde. In einer weiseren Gesellschaft wandelte sich der "Weg des Krieges" zu einem Mittel der geistigen und moralischen Weiterentwicklung: Ziel war nicht mehr das Schlachtfeld, sondern die Sorge, den einzelnen Menschen zu verfeinern und an sich selbst in einer aus den Kriegswirren entstiegenen Gesellschaft zu arbeiten.

Was vereint all die Kampfkünste: Judo, Karate, Wushu, Taekwondo, seien sie japanisch, chinesisch, koreanisch, ...?

Sie appellieren an die gleichen geistigen, moralischen und manchmal religiösen Komponenten und an eine Arbeit an sich, die darauf zielt, das Leben und die Welt zu verstehen. Dies ist der gemeinsame Nenner. Das, was sie hingegen unterscheidet, sind die jeweiligen Nationalitäten ... Man kann auch eine Unterteilung zwischen "äußeren" Kampfkünsten, die den Kampf in den Vordergrund stellen (wie zum Beispiel Karate oder Kung-Fu), und den "inneren" vollziehen, wo man vorzugsweise am Selbst, der Energie arbeitet (beispielsweise das Tai Chi Chuan). Während die Differenzierung vor zwei oder drei Jahrhunderten minimal gewesen sein musste, nimmt sie heutzutage zu. Jedoch hat alles seinen Anfang in China, welches über lange Zeit den Fernen Osten dominiert hat. Anschließend gesellten sich diverse Einflüsse hinzu.

Wann wird eine Kampfkunst zum Sport?

Wenn die Gesten nicht mehr ihre ursprüngliche Nachricht übermitteln, dazu zählen die Waffen des Krieges sowie des weiteren die Moral und die Arbeit an Sich, die der Einzelne an den anderen und der Gesellschaft vollziehen soll. Heute sind die Gestiken verarmt, denn Sport ist ein Massenphänomen. Deshalb ziehe ich es vor, von "Gestiken kriegerischen Ursprungs" anstatt von einer "Kampfkunst" zu reden. Der Sport basiert auf einfachen Regeln, die von allen mühelos verstanden werden können, die Kampfkunst hingegen beruht auf einer komplexen, mühsam zu entschlüsselnden Botschaft. Die Kampfkunst ist weder Fest, noch Wettkampf, noch Selbstkult, sondern Kampfkunst bedeutet sich vereinen, bedeutet Schmucklosigkeit. Folglich ein Gegenpol zum heutigen Zeitgeist ...

Weshalb sieht man heute in Europa neue Kampfkünste auftauchen?

Man braucht das Neue. Wir sind im Zeitalter des Zappens mit unterschwellig ökonomischen Zielen. Mit allen Kräften rückt man nun mit unbekannten "Dingen" wie den philippinischen, indonesischen Kampfkünsten, einem brasilianischen Ju-Jutsu heraus. Man gibt vor, diese seien besser als das, was man zuvor hatte. Nehmen wir Taekwondo als Beispiel, die Techniken sind nicht wirklich neu, sie sind denen des Karate sehr nahe. Aber Korea und der internationale Verband haben es geschafft, es als olympische Disziplin einzuführen: für dieses Land bedeutet dies die weltweite Anerkennung. Ich glaube aber, dass das dort keine schlechte Politik ist, ...

Wieso ist das Interesse an den Kampfkünsten in Frankreich so groß?

Auch in Deutschland oder England beobachtet man dieses Interesse. Es ist eine intellektuelle Besonderheit, die die Europäer auszeichnet: Wir waren es, die uns auf die Suche in den Fernen Orient begeben haben und nicht umgekehrt. Weiterhin wurde dies zu einem von den Verbänden gut gesteuerten Massenphänomen. Die Japaner selbst waren sehr erstaunt und mussten sich neu besinnen, als sie in Frankreich eine solche Qualität des Zuhörens und eine große Offenheit des Publikums vorfanden.

Was begeistert Sie an der Vermarktung des Judos und einiger Judokas wie David Douillet?

In den Kampfkünsten gibt es keine Gallionsfiguren. Im Sport schon. Von dem Moment an, in dem man sich entschließt, aus Judo eine der breiten Masse bestimmten Disziplin zu machen, benötigt man Zugpferde wie in jedem anderen Sport auch. Aber dies verdeckt all diejenigen, welche im Hintergrund arbeiten.

Und das Aufblühen vieler Schulen?

Dass es Stile und verschiedene Schulen gibt, dies versteht sich von selbst, aber Kapellen, um nicht mehr zu sagen, sind bedauerlich. Ich persönlich sehe keine Kampfkunst und bin gegen Sektentum und Kundenorientierung. Einige begründen eine sogenannte Schule auf einem theoretischen Unterschied oder, um freundlich zu bleiben, auf einer "Flunkerei" und um ihren Unterhalt zu verdienen ... Früher gab es keine professionellen Kampfkünstler. Heute ist es ein Handwerk. Wieso auch nicht? Aber man muss es gut machen und nicht sein Publikum in die Irre führen.

Abschließend, haben die Kampfkünste Einfluss auf unsere westliche Gesellschaft, oder ist es vielmehr andersherum?

Heutzutage entwickeln sich in Asien die Kampfkünste sehr schnell im sportlichen Sinn. Zu einem solchen Ausmaß, dass diejenigen, die nach Japan aufbrechen, bei ihrer Rückkehr oft enttäuscht sind: "Wo ist die Tradition?" Was den kulturellen Einfluss auf Europa betrifft: Nein. Seit den Siebziger Jahren sind es unsere Gemeinschaften, die die Kampfkünste nach ihren Bedürfnissen gestalten. Um beim Massenphänomen zu bleiben, sie benötigen eine Entwicklung zur Einfachheit, zum Spiel, zum Spektakel, alles verpflichtende hinwegnehmend. Die Schlichtheit der traditionellen Kampfkünste wird heute nicht mehr akzeptiert. Und betrachten Sie: während es in Frankreich noch niemals so viele Anhänger der Kampfkünste gegeben hat, wird die Gesellschaft immer gewalttätiger. Achtung, ich sage nicht, dass jene die Gewalttätigen sind! Aber wenn es einen wahren kulturellen Einfluss gäbe, müssten wir eine friedlichere Gesellschaft haben, mit ruhigen Menschen, die eine rote Ampel nicht aus der Fassung bringt oder schlimmer noch ... Dies ist jedoch nicht der Fall und zeigt, dass ein Teil des Inhalts verloren gegangen ist, dass nur noch die Technik übriggeblieben ist; und dies auch zunehmend ärmlicher.

Übersetzt von Erhard Weidenauer