"Gegenstand zum Nachdenken" ["Materie für die Reflektion"], verfasst von Shihan Roland Habersetzer

In der letzten Ausgabe (Nr. 8) der französischen Zeitschrift "Dragon" ("Drachen") finden Sie diesen, von Shihan Roland Habersetzer, 8.Dan Karatedo, verfassten folgenden Artikel.

Nur um in Erinnerung zu rufen, dass das Wichtigste dieser Techniken, auf die sich so viele Leute so oft berufen, niemals in dem liegt, was sie uns als Technik vorschlägt, sondern darin, was sie uns an Verhaltensregeln und Ethik vermittelt... Es war wichtig es zu sagen, um nicht damit fortzufahren so leicht "den Finger und den Mond" zu verwechseln (so, wie gesagt in einer bekannten Zen Geschichte)...

Diese "unendlichen Schätze" des Budo ... aber was noch?!

Wir leben in einer mehr und mehr einförmigen und grauen Welt, in der Unruhe und Sorge um das Alltägliche uns zumindest einen Willen zum Engagement erschweren, welcher bestenfalls sehr kurze Zeit überdauert. Und jede Anspielung auf ein großes gesellschaftliches Projekt, welches als Utopie einzustufen, jedoch unsere Jugend sehr wohl nötig hätte. Ein Projekt, das übrigens jeder nötig hätte, ist sich doch jeder dieses Gefühls von "sich schlecht Fühlen" wohl bewusst, dieses "schlecht Lebens", welches unsere Gesellschaft unterminiert, die weitermacht, aufgrund der Gewalttätigkeit Einiger und indem sie in der Unzulänglichkeit die Gleichgültigkeit einer Mehrheit sieht, geradezu auf eine Wand zuzulaufen........
Wann endlich wird dieser Abweg, dieser Weg in die Irre enden, dessen amtliches Protokoll man nicht mehr mitbekommt und dessen Folgen nicht aufhören das Leben jedes Lebewesens zu verderben, welches als vernünftig, besorgt um die Welt gilt, die wir zukünftigen Generationen hinterlassen werden? Ganz einfach bekümmert um das Menschliche also, um Sein Werden...

Und das ist noch nicht ganz vorbei, weil es immer noch zum guten Ton gehört, sich über manche/einige Werte lustig zu machen, die uns noch übrig bleiben.So sieht der Mensch dieses neuen Jahrhunderts aus [so geht der Mensch...], beruhigt in einem bequemen Konformismus, welcher im Gegenteil viel haben sollte, um ihn in Schrecken zu versetzen... Denn warum denn sich schlagen für Werte, die zu fördern und zu verteidigen man sich anschicken würde, wo doch die reale Welt sie so schlecht zeichnet und so schlecht belohnt?

Was ist altmodischer als immer noch "in den Stein eingravieren zu wollen"? Für wen denn? Warum denn? ... Lächerlich! Das Leben ist kurz und man wiederholt uns oft genug, dass es idiotisch sei, den gegenwärtigen Moment nicht intensiv zu leben, nichts als den gegenwärtigen Moment...Weil man ihn doch für wert hält... da ja der Rest dem Reich des Vergänglichen angehört. Effekte des Marketing und des Psycho-Philosophisch-Esoterischen und was-weis-ich noch Diskurses stützen Reflektion und Verhaltensweisen in eine gleiche Richtung. Und dann, was gilt in einer so fröstelnden Gesellschaft die Idee selbst, "sich" für etwas zu "schlagen", eine Idee, ein Prinzip, eine Freiheit? ... Man profitiert so viel mehr besser von allem, im Augenblick, indem man überhaupt kein Risiko eingeht... "Have fun" (*), ist eine Empfehlung, welche von jenseits des Atlantiks gekommen ist, schon vor Jahren, und welche die Europäer sehr schnell kopiert haben. Der Diskurs, hat innerhalb von 40 Jahren seine Früchte getragen. Heute müsste man damit aufhören so zu tun, als erstaunte man über das Ergebnis dieser riesigen Bewegung der sozialen Destrukturierung und, äußerste Heuchelei, in einer allgemeinen Verantwortungslosigkeit, sich darüber zu beklagen, während man alle jene Abrutscherreihen stigmatisiert, welche im täglichen Leben sich daraus ergeben.

Universelle Werte

Wir anderen Budokas besuchen hier und da einige Orte, die noch den Wohlgeruch einer anderen Sache haben, von früher her gekommen, wo man uns nur erklärt dass die traditionellen Kriegskünste (Budo, Wu-shu) Werte transportieren, die ewig positiv für den Menschen sind:
Sinn für Anstrengung, Achtung, Authentizität, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Bemeisterung seiner selbst, Nichtgewalttätigkeit, Unterscheidungsvermögen, Mut, Ausdauer, Humanismus, Sinn für Wirksamkeit, Wille zur Verpflichtung und Wille zum Fortschreiten ...genauso sehr Anhaltspunkte für ein ganzes Leben, auch Herausforderungen solcher Art, die bestanden, den Menschen wahrhaft erwachsen machen.
Und die in der Tat enthalten sind in den Katas des Budo, wie auch die des Karatedo (genauso gut wie in den alten chinesischen Tao-lu), die man "unendliche Schätze" nannte...
Ich will von diesen alten Katas (Koshiki - Kata) sprechen, wo alles in der Tiefe zu finden ist, weit entfernt von einem oberflächlichen Erscheinen eines Bunkai (Interpretation einer Technik) im ersten Grad. Nicht mehr von diesem modernen und spektakulären Choreographien, musikalisch und athletisch, die man noch die Stirn hat Katas zu nennen, die von ...nichts...bewohnt...werden...wenn nicht von einer unglaublichen Anregung zur Entwicklung des Ego, gänzlich im Gegensatz zum wahren Sinn der Übung.

Ich will von den alten Katas sprechen, in denen sicher die Techniken sich von einer Schule zur anderen ändern können, deren Essenz aber rigoros identisch ist, welche von denen dort hingesetzt (dort verborgen?) wurde, die sie entworfen haben, damit sie entdeckt werden, mit der Zeit, die für notwendig erachtet wird für eine wirkliche Reifung des Seins. Diese Essenz, die aus dem Kata viel eher einen "Weg des Menschen" macht als eine technische Sequenz, die mehr oder weniger schwierig ist, spektakulärer oder wirksam oder werbewirksam auf Geltung vor einem Publikum bedacht. "Unendliche Schätze"... Ich habe mich immer gefragt, wie eine Technik, bestimmt dazu, zu Verstümmeln oder den Tod zu bringen, als "unendlicher Schatz" qualifiziert werden konnte! ... Oder dann weil... in der Anschauung einer traditionellen (aber authentischen) Technik, der wahre Bunkai darin besteht, den Faden eines "Verhaltens" zu finden, viel eher als ein Rezept für eine einfache Anwendung im Kampf. Ein Streben nach einer Entdeckung, die sehr wohl des Niveaus des Gengi-bunkai ist (klassische technische Interpretation, antik, veraltet, im Kontext der Epoche entworfen), sehr wohl jenseits eines Kaishaku-bunkai sogar (ergänzende technische Interpretation, welche bis zu einer möglichen aktualisierten Ableitung gehen kann)... Der wahre Sinn einer Kata, die dieses Namens würdig ist, ist es weit wohl jenseits solcher Hauptinteressen im ersten Grad, den Schlüssel einer inneren Haltung (Einstellung) zu finden (Shisei), für ein Benehmen (Seiki). Es gibt keine authentische Kriegskunst, jedenfalls keine, die des Interesses wert ist, ohne Kata, in welcher die Kata nicht nur eine Erinnerung an die Vergangenheit ist (statisches Element), sondern auch ein Gebrauchs- Kode für die Gegenwart (dynamisches Element). Und das in allen, in jeder Hinsicht, Sinnausrichtungen dieser Begriffe.

Die Kata ist, auf dem Niveau der Gruppe, das Herz einer Budo Praxis, der Entwurf eines Streben und einer Vision, welche die Vergangenheit und, sicherlich mit ein wenig mehr Anstrengung der Vorstellungskraft, die Gegenwart, ja sogar die Zukunft einschließt...Die Kata ist auf der Ebene des Individuums ein Prozess der Ausarbeitung eines Zustandes (innerlich) um nach einer für eine bestimmten Art zu handeln (äußerlich)... Jedoch eine Art kodierte Botschaft, die sich selber wie den anderen dienen soll... Ein Konzentrat der Erziehung... Wenn Sie noch nicht an diese Art der Dimension des Kata gedacht haben, fragen Sie sich, wenn denn noch Zeit ist, was die Art der Kriegskunst ist, die Sie ausüben, und welchen Sinn Sie ihr geben wollen.

Wahrer Einsatz

Außerdem wäre es nötig, dass diese "unendlichen Schätze" des Kata, dieser unveränderbare "Boden" welcher tatsächlich seinen wahren Bunkai ausmacht, so sehr jenseits der ausschließlichen einzigen Anwendung im Kampf, verstanden würden und im täglichen Leben übertragen würden. Auch wäre es nötig, dass man nicht, aus Bequemlichkeit und Konformismus, oder, noch schlimmer, aus Nabelschau, dabei stehen bleibt, sie nur innerhalb der Mauern des Dojo zu kultivieren (oder scheinbar zu kultivieren? ...).

Es sollte nicht nur einen Typ des Verhaltens und der Praxis im Dojo geben (ein Dojo ist durch seine Konventionen ein geschützter Raum), sondern auch einen anderen Typ außerhalb des Dojo... Und wenn die wahren Budokas, jene, die vorgeben, in einer anderen Dimension zu praktizieren als der des Sports, welche so eng begrenzt ist in der Zeit wie auch im Geist, nicht über diesen Einsatz nachdenken würden, wer sollte es denn sonst tun? Man weiß sehr wohl, dass der Sport heutzutage nunmehr nur noch strukturiert ist, um zum Wettbewerb zu führen und dass der Wettbewerb so leicht zu Essenzen führt, die schließlich sowohl den Körper wie auch den Geist zerstören...

Im Geist des Budo oder im Geist des Wu-shu zu praktizieren heißt, zu lernen sich aufzubauen und nützlich zu sein, jeder von seinem Platz aus, um sich in einer Welt zu engagieren, die immer von neuem andere Farben als die des Vergänglichen haben würde, und auch um aufrecht zu leben, sich niemals damit abzufinden sich zu unterwerfen, um den Willen zu schmieden, all jenen falschen Credos zu widerstehen, mit denen man unsere Gesellschaft überschwemmt und welche den interessierten Diskurs einer Minderheit arrangieren, die auf einer Welle schwimmen, die sie [die Minderheit] geschaffen hat, weit entfernt von den wahren universellen Werten, die weiterhin die Größe des Menschen ausmachen werden. Um zu leben, wahrhaft, ganz einfach, in einer Gesellschaft die wiederum ein bisschen vernünftiger und beruhigender geworden ist, weil sie eine Zukunft haben würde, welche sehr nahe ist mit den humanen Reichtümern, die aus ihrer Vergangenheit gekommen sind und sie verewigt.

Um alles zu sagen: wäre es nicht Stoff um nachzudenken um beizutragen, von unseren Dojos aus, zu einem Projekt der Gesellschaft, von dem man oft redet, zu dem man aber zögert einen wahren Führungsfaden zu finden?
Und hätten wir Budokas dort nicht einen Grund um uns zu engagieren und unseren Dojos, aus Berufung erzieherische Wirkungskreise, einen Sinn in der "richtigen" Welt wiederzugeben? Welcher sie auf Dauer glaubwürdiger und attraktiver machen würde? Sinn der Anstrengung, der Achtung, Authentizität, Rechtschaffenheit, Bescheidenheit, Selbsterziehung, Nicht- Gewalttätigkeit, Unterscheidungsvermögen, Mut, Ausdauer, Humanismus, Gefühl für Wirksamkeit, Willen zum Engagement und zum Fortschreiten..., sind sehr wohl diese "unendlichen Schätze" für den Menschen von gestern wie für den von heute und von morgen. Und wäre es auch nicht, ganz einfach, das was die jungen Menschen von uns verlangen: Anhaltspunkte aufrecht zu erhalten, welche ihnen helfen werden erwachsen zu werden...?

Der Sinn der Kata

Ich bin überzeugt, dass hier der wahre Sinn einer Kata liegt, auch wenn, es konnte damit auch nicht anders sein, die ursprünglichen Katas uns nur auf fragmentarische Weise überliefert worden sind. Dieser Sinn, dieser "Grund" der Kata, diese "unendlichen Schätze", konstituieren auch die Daseinsberechtigung dessen, was ich heute im "Budo-Forschungs-Zentrum" den "Tengu-Weg" (Tengu-no-michi) nenne: eine Form der kriegerischen Übung die auf einem Karate-Gebärde fußt, welche nicht mehr ist als ein technischer Entwurf zu einer Rückkehr zu einer Haltung, welche von den Alten inspiriert ist (letztendlich mit der Verweigerung von Gewalt, allerdings ohne Feigheit: "sich nicht schlagen, sich nicht schlagen lassen" ist Motto im "Tengu Weg"). Und wenn, in gewissen Punkten, diese Praxis rekonstruiert wird auf einem technischen Raster, das einem eventuellen Gebrauch in einer aktuellen äußeren Umgebung besser angepasst ist, (welche sich, manchmal schwerwiegend, verändert hat!), so handelt es sich nur darum, eine Glaubwürdigkeit an Mittel zurückzugeben, die entworfen sind ein Verhalten zu bestärken, das über den Bereich des Dojo hinausgeht. Alle diese Schulen, diese Stile, diese Experten, hier und dort, die sich einzig und allein "schlagen" mit Superlativ-Techniken, um ihre Unterschiede zu kennzeichnen... Lächerlich und schmerzlich!

Ich glaube an die Worte von Anzawa Heijiro, Kyudo-Meister (1887 - 1970): "Derjenige, der sich auf die Technik polarisiert, verliert den Weg" (**). Da sind wir doch wohl im Herzen des wirklichen Problems...

Der Weg wird immer der Weg bleiben, ob man ihn stromaufwärts betrachtet, indem man vorzieht dem zu Vertrauen, was schon hinter einem ist, oder ob man ihm nur stromabwärts folgen will, indem man die Erleuchtung wählt, die er der Zukunft geben kann. Dieser Weg ist zeitlos und lebendig. Er ist jenseits von Technik, er geht weit hinaus. Das Wesentliche ist heute, ihn fortbestehen zu lassen, was unmöglich ist, ohne ihm seinen Sinn zu bewahren, der im Alltäglichen nützlich ist. Er soll bleiben, für die, die uns folgen und uns vertrauen. Um Gründe zu bewahren an die Zukunft zu glauben. Wenn diese Quelle der "Intelligenz des Herzens" versiegen sollte, hätten wir wirklich etwas, um an dieser Zukunft zu zweifeln. Denn dieser "rechte" Weg, um ein "rechtes" Benehmen zu lernen, bleibt, in sich und mehr als jemals, schon durch seine simple Existenz eine Herausforderung gegenüber der planetarischen Unternehmung des Auseinanderbrechens, des Abhängigmachens, und der Verdummung des Menschen... Erhalten wir ihm seine Anhaltspunkte und verteidigen wir sie. Es geht natürlich nur, wenn wir daran glauben und es wollen. Und dementsprechend konsequent handeln. Also... überlegen wir... Es ist vielleicht noch nicht zu spät. "Alterfahrene" des Weges wissen im Grund ihrer selbst wohl, dass es keine andere Alternative gibt, um zu retten, was noch bleibt von dem, was sie leidenschaftlich lieben.

Aber "wissen" genügt nicht: man müsste sich, endlich, dazu entschließen zu "handeln"! Aber das... würde bedeuten, dass man es akzeptiert frank und frei "in den Widerstand" einzutreten gegen den Zeitgeist, also auch Risiken einzugehen... Jedoch, wäre das nicht eine wahre "Budo - Haltung" ..., die einzige, die es verdient, überliefert zu werden?

Shihan Roland Habersetzer

Übersetzt aus dem Französischen von Heide-Marie Hönow, Traunstein, 17.03.2005

(*) = Spaß haben, hab Spaß, amüsiert Euch, vergnügt Euch.
(**) nicht so weit entfernt von "Wissenschaft ohne Gewissen ist nichts anderes als Zerstörung der Seele" von dem französischem Schriftsteller François Rabelais (1494 - 1553).